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6 Wochen zu früh bin ich Anfang der 1970er Jahre zur Welt gekommen. Und als es Zeit wurde, dass ich laufen lernte, konnte ich es nicht.
Die Ärzte stellten fest, dass die fehlende Zeit im Bauch meiner Mutter dazu geführt hatte, dass meine Nervenbahnen sich nicht richtig entwickelt hatten.
Foto: Meine Mutter und ich beim Turnen vor 50 Jahren
Es sah so aus, dass dies eine bleibende Behinderung nach sich ziehen würde. Meine Mutter weigerte sich, das zu akzeptieren.
Sie zog von Experte zu Experten und begann, mit mir zu turnen. Tag für Tag.
Ich musste Bewegungen machen, die mir extrem schwerfielen, und ich musste mich sehr anstrengen.
Jeder, der selbst Kinder hat, weiß, dass es eine anspruchsvolle Aufgabe ist, ein Kind, das gerade mal 18 Monate alt ist, zu so etwas zu motivieren.
Manche Eltern verzweifeln schon am täglichen Zähneputzen.
Und meine Mutter hatte ja Zwillinge, musste das Wunder also zwei Mal gleichzeitig vollbringen.
Doch sie schaffte es: Mit viel, viel Übung verlernten meine Nervenbahnen, was sie falsch machten, und lernten, es richtig zu tun.
Nur noch ein Mal in meinem Leben bin ich dem Nachteil, mit dem ich ins Leben gestartet war, begegnet:
Als ich 16 war bemerkte mein Reitlehrer, dass ich die eine Ferse beim Reiten nicht auf die Höhe des Steigbügels senken konnte.
Ich übte und bald erinnerten nur noch die Turnfotos meiner Kleinkindzeit daran.
Mein Großvater, ein sehr erfahrener Arzt, kannte die Prognosen und war in die Gespräche mit den Experten einbezogen. Er sagte, dass es aussichtslos schien.
Er hat immer wieder betont, wie groß die Leistung meiner Mutter war, das alles zu ignorieren, und einfach weiterzumachen.
Wenn man sie darauf anspricht, wischt sie es weg. War doch selbstverständlich.
Vor fünf Jahren haben meine Mutter und ich gemeinsam Urlaub in Lissabon gemacht.
Wir hatten eine entzückende Ferienwohnung, jede von uns mit eigenem Schlafzimmer.
Mitten in der ersten Nacht wurde ich plötzlich wach, weil ich jemanden in der Wohnung hörte.
Mit vor Aufregung rasendem Herzen lag ich im Bett, und überlegte, ob es schlauer sei, im Bett liegen zu bleiben und mich schlafend zu stellen, oder aufzustehen und dem Eindringling entgegenzutreten.
Ich hoffte, dass er nur auf Wertsachen aus war und wieder verschwinden würde, sobald er unsere Handtaschen gefunden hatte.
Doch was, wenn nicht?
Wenn er uns auf die Pelle rücken wollte?
Mit klopfendem Herzen entschied ich mich fürs Aufstehen.
Zu meiner Überraschung traf ich in der Dunkelheit der Diele auf meine Mutter, die mir zuvorgekommen war.
Sie war bereits mit einer Bratpfanne bewaffnet.
Sie hatte die einzige mögliche Waffe im Appartement identifiziert und sich angeeignet, als ich noch ängstlich im Bett gelegen hatte.
Knapp 50 Jahre waren vergangen, seit die Ärzte ihr erklärt hatten, dass ihre Töchter behindert sein würden.
An ihrer Entschlossenheit, für mich einzutreten, hatte sich nichts verändert.
Wir schalteten das Licht ein und stellten fest, dass sich außer uns niemand in der Wohnung befand.
Das Appartement war so hellhörig, dass uns das Heimkommen der Nachbarn im Stockwerk obendrüber akustisch in die Irre geführt hatte.
Es war glücklicherweise nicht erforderlich, dass meine Mutter auf ihre alten Tage jemanden mit der Bratpfanne erlegen musste, um ihre Tochter (und sich selbst) zu beschützen.
Ich werde mich an diesen Moment erinnern, solange ich lebe.
Meine Mutter ist eher klein und hat die meiste Zeit ihres Erwachsenenlebens 45 kg gewogen. Heute bringt sie etwas mehr auf die Waage, allerdings hat das Alter sie schrumpfen lassen.
Sie war in jener Nacht schon deutlich über 70 Jahre alt, und rein nach ihrer körperlichen Statur ist sie nicht gerade ein angsteinflößender Gegner.
Doch als sie da – mit der Bratpfanne bewaffnet und zum Äußersten bereit – in der Wohnung stand, war mir klar, dass man sich mit ihr besser nicht anlegen sollte.
Sie war eine sehr ernstzunehmende Gegnerin, egal für wen.
Und sie war bereit, ihre Entschlossenheit für mein Wohl ohne Bedingung einzusetzen.
Sie ist immer auf meiner Seite gewesen. Von Anfang an.
Ich war ein Wunschkind und heute weiß ich, dass meine Mutter mich immer geliebt hat. Heute weiß ich auch, dass sie mir oft mehr gegeben hat, als sie hatte. Und dass sie mich nie verletzen wollte.
Sie hat es trotzdem getan.
Als ich ein Kind war, hat es sich für mich oft nicht so angefühlt, als würde sie mich lieben.
Ich war ein einsames Kind, und das, obwohl meine Mutter mir wirklich gut gewollt hat.
Seit ich erwachsen bin unternimmt sie Versuche, mit mir über das zu sprechen, was in meiner Kindheit nicht so gut gelaufen ist. Doch bis jetzt ist ein Austausch darüber nicht gelungen.
Als ich jünger war habe ich mich daran abgearbeitet, von ihr verstanden zu werden. Das liegt lange hinter mir. Ich glaube nicht, dass ich noch irgendetwas mit ihr zu klären hätte.
Meine Kindheit liegt Jahrzehnte zurück, und die Wunden, die in dieser Zeit in mir entstanden sind, liegen jetzt in meinem Verantwortungsbereich. Ich werde immer besser darin, mir selbst die Mutter zu sein, die ich als Kind gebraucht hätte.
Das Gute ist, dass das gar nicht nötig ist. Ich kann mich selbst ändern.
Ich bin heilfroh, dass meine Mama noch da ist. Ich liebe sie aus tiefem und dankbarem Herzen zurück und ich bin jeden Tag glücklich, dass sie noch auf dieser Erde weilt.
Mein Vater ist leider schon viele Jahre tot, und auch wenn zwischen ihm und mir alles gut ist, vermisse ich ihn.
Gabor Maté, mein Leuchtturm, antwortet auf die Frage, wie Eltern die Beziehung zu ihren erwachsenen Kindern verbessern können: mit echtem Interesse zuhören.
Das klingt sehr viel leichter, als es ist.
Maté betont, wie wichtig es ist, uns von unseren Schuldgefühlen nicht einflüstern zu lassen, unsere Kinder seien beschädigte Problemfälle.
Er sagt, dass die Frage nicht ist, ob wir unsere Kinder verkorksen, denn das tun wir in jedem Fall. Die Frage ist, wie wir sie verkorksen.
Und sich dem zu stellen bedeutet, dass wir uns dem Schmerz in uns stellen, der aus den Schuldgefühlen herrührt.
Und dann unseren Kindern mit echter Offenheit und echtem Interesse zuhören. „Wie war es damals für Dich?“
Was, wenn die Antwort ungefähr so lautet:
„Ich hatte keine schöne Kindheit. Ich war sehr einsam und traurig, und ich dachte, dass ich an Deinem Unglück schuld bin. Ich fühlte mich nicht geborgen oder gewollt. Ich habe mich nach Wärme und Liebe gesehnt. Du warst überfordert. Ich hatte Angst um Dich, weil Du nicht gut für Dich sorgen konntest. Ich war auch überfordert. Deine Katastrophen, die Du vor mir versteckt zu halten meintest, versetzten mich in Angst und Schrecken. Deine Rücksichtslosigkeit gegen Dich und mich hat meine Kindheit zu einem dunklen Ort gemacht.“
Wer kann sich das anhören, ohne sich entsetzlich zu fühlen? Ohne daraus Vorwürfe gegen sich selbst abzuleiten? Ohne Schmerz zu fühlen? Scham?
Abwehr. Ganz besonders bei der Generation der Kriegskinder, die in sich selbst viel ungeheilten Schmerz trägt.
Wenn wir aber abwehren, was wir hören, dann gelingt der Austausch nicht.
Je nachdem, wie weit unser erwachsenes Kind innerlich seinen eigenen Weg gegangen ist, kann es gar passieren, dass die Abwehr der nicht zuhörenden Mutter genau den alten Schmerz der Kindheit wachruft, nicht verstanden und einsam zu sein.
Und daraus entsteht ein Teufelskreis.
Gerade habe ich eine Mutter darüber klagen hören, dass ihr erwachsener Sohn immer nur das Negative aus seiner Kindheit erzähle.
Und das viele Positive nie seine Beachtung fände. Dass er ihr gesagt habe, er hätte Angst vor ihr gehabt.
Und wie sie ihm dann erklärt habe, dass er ihr „alles“ erzählt habe, als er klein war. Dass er sich ihr anvertraut habe sei der Beweis, dass er keine Angst gehabt habe.
Sie wünscht sich, dass er andere Erinnerungen hat. Und dass seine Gefühle anders waren.
Man kann sie nur anerkennen.
Wenn er sich an die Angst erinnert, die er hatte, dann erinnert er sich an die Angst.
Ich bin überzeugt, dass seine Mutter sie damals nicht wahrgenommen hat oder nicht wahrhaben wollte.
Sie will sie ja selbst heute, viele Jahre später, nicht wahrhaben.
Macht sie das zu einem schlechten Menschen? Nein!
Aber zu einer (immer noch) unglücklichen Mutter mit der man als Kind nicht über die Vergangenheit sprechen kann.
Ich habe mir als Kind am allermeisten gewünscht, dass meine Mutter glücklich sei.
Ich wünsche mir das immer noch.
Und daher rührt so viel Unglück zwischen Müttern und ihren Kindern.
Dass sie sich gegenseitig wünschen, dass es ihnen gut geht, und dass sie das Gegenteil nicht ertragen können.
So wenig können sie es ertragen, dass sie darüber eher die Beziehung beschädigen.
Es gibt viele Studien darüber, dass Gefühle ansteckend sind.
Wenn ein körperlich völlig unversehrter Mensch einen anderen in Schmerzen sieht, leuchten auf der Computertomographie bei beiden die gleichen Schmerzzentren im Gehirn.
Zu sehen, dass jemand Schmerzen hat, tut uns körperlich weh.
Und je näher uns jemand steht, desto mehr fühlen wir die Gefühle des anderen.
Die Forschung hat längst nachgewiesen, dass es beispielsweise genauso traumatisierend ist, eine Gewalterfahrung, die einem Geschwister zustößt, mitzuerleben, wie wenn wir selbst Opfer von Gewalt werden.
Doch nicht nur Schmerz überträgt sich.
Wir können andere auch mit Ruhe und Zuversicht anstecken.
Das ist besonders wichtig für Kinder, deren eigene Fähigkeit, ihre Gefühle zu regulieren, sich erst noch entwickelt.
Da wir als Eltern mindestens unbewusst wissen, wie schutzbedürftig und abhängig unsere Kinder sind, verletzt uns der Schmerz, den unsere Kinder erleiden, doppelt.
Nicht nur, dass wir den Schmerz mitfühlen. Wir leiden auch daran, dass wir unser Kind nicht vor dem Schmerz bewahren konnten.
Denn wir sind doch für den Schutz dieser lieblichen kleinen Wunder verantwortlich.
Meine beiden Kinder hatten schon Unfälle, und der Schmerz, den das in meinem Körper verursacht hat, war schlimmer, als wenn mir selbst etwas passiert.
Es war scheußlich, als ich mir im Februar so sehr den Fuß verstaucht habe. Aber ich wusste: Ich kann das aushalten.
Wenn das Kind Schmerzen hat, weiß man ja nicht, ob es aushaltbar ist.
Deshalb kann mitfühlen manchmal schlimmer sein als selbst fühlen.
Einen gebrochenen Arm oder eine Gehirnerschütterung steht man durch.
Doch dann gibt es noch den viel komplizierteren Schmerz, der in Beziehung entsteht. Den die Eltern dem Kind in Beziehung zufügen.
Aus der eigenen Unfähigkeit, sich zu verbinden, was den größten Schmerz bei kleinen Kindern verursacht.
Wenn Eltern ungeheilten Schmerz aus ihrer eigenen Kindheit in sich tragen, gärt dieser unter der Oberfläche.
Die Nähe zu einem kleinen Menschen, den wir über alles lieben, verbindet uns unbewusst mit dem alten Schmerz.
Deshalb ist es manchmal so hart, Eltern zu sein. Die ungeklärten Themen unserer eigenen Kindheit kehren mit unseren Kindern als lebendige Verkörperungen zu uns zurück.
Darin liegt einerseits eine riesige Chance: Wir können das klären, was wir damals nicht lösen konnten. Aber nur, wenn wir uns darüber bewusst sind, und wenn wir Werkzeuge haben, alte Wunden zu heilen.
Wenn Bewusstheit und / oder Werkzeuge fehlen, nutzen wir die unbewussten Mechanismen, diesem Schmerz aus dem Weg zu gehen: durch Verdrängen oder Vermeiden.
Unter anderem Bessel van der Kolk hat in seinem Grundlagenwerk Verkörperter Schrecken erklärt, wie eine dauerhafte seelische Wunde entsteht.
Simpel ausgedrückt: wenn uns etwas passiert, das uns so sehr überfordert, dass wir uns innerlich von der Erfahrung abtrennen, damit wir weiter funktionieren können.
Wenn wir nicht verarbeiten können, was mit uns geschieht, greift ein psychologischer Schutzmechanismus:
und bleibt im Körper gespeichert, bis wir so stark und weise werden, dass wir ihn heilen können.
Dieser Vorgang findet im emotionalen Gehirn statt, in dem es kein Zeitempfinden gibt.
Die Folge: ein Schmerz, der eigentlich 45 Jahre alt ist, ist in seiner Reaktivierung so frisch, als wäre die Verletzung gerade erst entstanden.
Wenn unser dreijähriges Kind im Rennen stolpert und sein Knie blutig aufschlägt, ist es überwältigt vom Schmerz, von dem Entsetzen über das Blut und dem Schock, verletzlich zu sein.
Es braucht dann eine enge Bezugsperson, um diese Gefühle zu verarbeiten.
Es muss weinen und den Schmerz fühlen. Und vor allem muss es sich mit dem Gefühl anstecken, dass trotz des Schmerzes, trotz des Entsetzens, die Welt in Ordnung ist.
Das Kind braucht einen gelassenen Erwachsenen, der sich völlig sicher ist, dass blutende Knie heilen und weinende Kinder wieder lachen werden.
Je öfter das Kind das übt, desto schneller lernt es, seine Gefühle selbst zu regulieren.
Wenn wir Eltern jedoch, ohne uns bewusst daran zu erinnern, als Kind etwas Ähnliches erlebt haben, und wir wurden damals nicht getröstet, aktiviert das Entsetzen über den Schmerz und das Blut unseres Kindes den unbewussten Schmerz unserer eigenen Kindheit.
Und weil wir den nicht geheilt haben, überwältigt er uns genauso wie damals.
Emotional sind dann zwei Dreijährige in ihrem Entsetzen vereint, wenn der eine der beiden auch im Körper eines Erwachsenen steckt.
Und der im Körper des Großen beendet seinen eigenen Schmerz, indem er das kleine Kind anfährt, es solle sich zusammenreißen und aufhören zu weinen.
Der Zyklus kann erst durchbrochen werden, wenn wir unseren eigenen Schmerz heilen, so dass wir nicht mehr überwältigt werden davon, wenn unserem Kind etwas über den Kopf wächst.
Doch die Verlockung ist groß, sich dem Schmerz zu verschließen.
Es ist nicht leicht, ihn zu heilen, und man muss ihn fühlen, bevor er sich auflöst.
Und so wird es besonders schwer, wenn die Kinder älter werden, und immer wieder die gleichen Geschichten erzählen.
Ich habe eine sehr liebe Verwandte, die deutlich über 80 Jahre alt ist, und die immer noch untröstlich darüber ist, dass ihre Mutter ihren Bruder ihr immer vorgezogen hat.
Ihre Mutter und ihr Bruder sind schon lange tot.
Und wenn sie über die Zurückweisung durch ihre Mutter spricht, hört man die Stimme eines kleinen Mädchens aus dem Mund einer hochaltrigen Frau.
Und weil sie darin stecken geblieben ist, das verletzte Kind zu sein, gelingt auch ihre Beziehung zu ihrem eigenen, lange erwachsenen, Kind schlecht.
Und dann sagen Mütter: Mein Kind ist jetzt groß, und ich habe genug gegeben.
Oder sie sprechen die Themen immer wieder von sich aus an. Aber nicht aus der Fähigkeit, sich dem Schmerz heute zu stellen, sondern aus dem Schuldgefühl, das vom Kind hören möchte, dass es gar nicht schrecklich war.
Doch was nicht gut ist, ist nicht gut.
Heißt das, dass alle Mütter Heilige werden müssen? Die alle ihre Themen für sich geklärt haben und mit offenem Herzen und Gelassenheit sich die Schmerzen anhören, die sie nicht verhindert oder sogar zugefügt haben?
Natürlich nicht! Aus mehreren Gründen.
Erwachsen zu werden hängt nur bedingt mit dem Lebensalter zusammen. Wenn wir unser Leben lang hoffen, dass unsere Eltern an uns wieder gut machen, was geschehen ist, versäumen wir es, Verantwortung für uns selbst zu übernehmen.
Hermann Hesse hat gesagt, dass erst an dem Tag, an dem Du die volle Verantwortung für Dich selbst übernimmst, Deine Reise zu Dir selbst beginnt.
Wenn ich wirklich begreife, dass sich die Vergangenheit nicht ändern lässt, und dass die Änderung in mir selbst stattfinden muss, was hat dann ein anderer Mensch damit zu tun? Ganz besonders einer, dem mein eigener Schmerz selbst weh tut?
Die gute Nachricht daran ist: Du bist Deines eigenen Glückes Schmied. Und Du kannst ein gutes Leben leben, unabhängig davon, was andere Menschen tun oder lassen.
Und doch wird gesagt: Hätte Putins Mutter ihren Job besser gemacht, hätten wir jetzt keinen Krieg. Selbst wenn ein Körnchen Wahrheit darin liegt ist Putin doch ein erwachsener Mann, der für seine eigenen Handlungen verantwortlich ist.
Aber es gibt noch einen anderen Punkt, der mindestens genauso wichtig ist.
Die Idee, dass die Verantwortung allein bei den Müttern liege, missachtet die gesellschaftliche Realität, dass Familien und ganz besonders Frauen total überlastet sind.
Kollektiv betrachtet haben wir es einfach noch nicht raus mit der artgerechten Menschhaltung.
Einen kleinen Menschen optimal aufzuziehen ist von einem Menschen allein überhaupt nicht zu schaffen.
Es ist unmöglich, als Einzelperson allein eine Aufgabe zu bewältigen, die nur im Team bewältigbar ist.
Kinder sind so verletzlich und so bedürftig, dass kein Mensch allein ihnen all das geben kann, was sie brauchen.
Wir geben kollektiv den Müttern die Schuld. Dabei sind die gesellschaftlichen Ursachen von extrem großer Bedeutung.
Materialismus, Stress, die Auflösung der Familie, Erziehungsideale aus der Nazizeit, die heute noch unerkannt weiterwirken, und vieles weitere verhindern eine artgerechte Menschhaltung.
Als Gesellschaft sollte es unsere allererste Priorität sein, unsere Kinder zu beschützen und feinfühlig ihre Bedürfnisse zu erkennen und sicherzustellen, dass sie erfüllt werden.
Und das würde nicht nur bedeuten, dass Mütter in ihrer Aufgabe unterstützt würden (was schon ein großer Fortschritt wäre) oder dass die Wichtigkeit ihres Beitrags anerkannt wäre (auch das wäre ein Paradigmenwechsel), sondern dass wir gar nicht mehr auf die Idee kämen, dass Mama allein für alles verantwortlich wäre.
Es gälte nicht als selbstverständlich, was ihr gelingt (also zählt nicht, was sie gut gemacht hat), und als Versagen, was ihr misslingt.
Wir würden schauen: Wo läuft es nicht gut? Wo fehlt Unterstützung? Wo wird die Menschlichkeit verletzt? Wo wird die Würde angetastet?
Wann immer die Würde des Menschen verletzt wird, entsteht Trauma.
Es ist an der Zeit, zu erkennen, dass wir alle zusammengehören. Dass wir gegenseitig aufeinander aufpassen müssen.
Und dass wir daran, wie wir mit unseren Kindern umgehen, ablesen können, wie es um unsere Menschlichkeit bestellt ist.
Als Menschheit.
Die meisten Mütter lieben ihre Kinder. Und wenn sie ihre Kinder nicht lieben können, sagt das extrem viel darüber aus, was wir als Gesellschaft haben geschehen lassen, dass es soweit kommen konnte.
Verletzte Menschen verletzen Menschen.
Mütter wissen oft nicht, was sie tun. Oder sie wissen es, und können trotzdem nicht anders. Das tut allen Beteiligten weh.
Würden wir realistisch einschätzen, was ein Mensch zu leisten imstande ist, würden wir nicht mehr verlangen, dass Mama das Unmögliche möglich macht.
Davon sind wir weit entfernt.
Ich begreife immer mehr, dass es tatsächlich Beziehung braucht, um die Wunden zu heilen, die in Beziehung entstanden sind.
Glücklicherweise muss die Heilung nicht in der Beziehung geschehen, in der die Wunde entstanden ist.
Es ist sogar viel einfacher, in Beziehungen zu heilen, deren Gegenüber an der ursprünglichen Verletzung nicht beteiligt war.
Ich bin innerlich meinen Weg gegangen. Nicht, weil ich besonders schlau oder mutig bin. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, woher ich den Mut gefunden habe, meinen Schmerz anzusehen und zu heilen. Das einzige, was ich sicher weiß, ist, dass es nicht mein Verdienst ist, sondern dass es mir von irgendwoher geschenkt ist. Am ehesten könnte ich sagen: es kommt aus der Weltenseele.
Sie fängt immer wieder an, über früher zu sprechen, und ich spüre bei ihr den unerlösten Wunsch, die Dinge von damals auch für sich zu heilen.
Ich kann mir das mit offenem Herzen anhören und ich habe viel Liebe und Mitgefühl, dass meine Mutter dringend selbst eine mütterliche Mutter gebraucht hätte, als ich klein war. Sie hatte keine, und das lässt sich nicht mehr ändern.
Meine beiden Großmütter kamen für diese Aufgabe aus Gründen, die in deren Schicksalen lagen, nicht in Frage. Auch sie trugen keine Schuld.
Inwieweit meine Mutter damals erkannt hat, was sie mit ihrer Härte in mir angerichtet hat, sei mal dahingestellt.
Mehrere Mütter, die ich kenne, und die sehr mutige Frauen sind, die entschlossen Dinge verbessern wollen und viele Dinge erfolgreich anpacken, werden überwältigt von dem Schmerz, den sie ihren eigenen Kindern zugefügt haben.
Ein kluger Mensch hat mir dafür eine erlösende Perspektive gegeben: Er schlug vor, seine Mutter solle sich einen Therapeuten suchen, und mit dem über ihre Schuldgefühle sprechen, statt ihn damit zu behelligen.
Diese Idee finde ich toll, doch ich halte die Wahrscheinlichkeit, dass meine Mutter mit inzwischen fast achtzig Jahren plötzlich anfängt, sich selbst wichtig zu nehmen, für extrem gering.
innerlich selbst so weit zu kommen, dass ich mit ihr über diese Themen sprechen kann. Und dass ich auch dann im Gespräch mit ihr bleiben kann, wenn sie mich missversteht, falsch interpretiert oder Dinge verleugnet oder verdreht, so dass sie es besser ertragen kann.
Da bin ich noch nicht.
Es wäre für mich Ausdruck großer Liebe, das zu schaffen, solange meine Mutter lebt.
Ich wünsche mir inständig, dass ihr noch viele, viele Jahre bleiben und ich eines Tages die Chance bekomme, ihr zu sagen:
Vieles war gar nicht gut, liebe Mama.
Und dass ich dann innerlich weit genug gekommen bin, mit einem ruhigen Herzen über den Schmerz zu sprechen, den ich in der Zeit erlitten habe, als ich von ihr völlig abhängig war.
Und es loszulassen, was sie damit macht.
Doch da ist noch eine andere Stimme in mir, die sagt: Nein! Das kannst Du doch nicht machen! Was, wenn sie das nicht aushält?
Vielleicht kann ich ihr diesen Text auch irgendwann zeigen.
Gleichzeitig ist er als Inspiration für Dich gemeint, Mutterschaft um weitere Blickwinkel zu ergänzen.
Nicht nur die Mutterschaft der Frau, die Dich geboren hat, sondern auch Deine eigene, wenn Du selbst Kinder hast.
Ich kenne einige Mütter, die den Mut haben, sich mit sich selbst auseinander zu setzen, und die mir genug vertrauen, mir davon zu erzählen.
Ich habe Freundinnen, die wirklich mutig sind, und die bereit sind, die Verantwortung für sich und ihre Handlungen zu übernehmen.
Bei dem Schmerz, den wir Mütter unseren Kindern zufügen, wird die Luft allerdings sehr dünn.
Daraus entsteht ein ungutes Paar: die sogenannte Mutterwunde, und die Schuld, die die Mütter kollektiv empfinden.
Meine Mutter ist kurz vor Kriegsende zur Welt gekommen und in ihren ersten Lebensmonaten fast verhungert.
Ihre Mutter, meine Großmutter, hat in der ersten Zeit, die sie meine Mutter hatte, Schreckliches erlebt: Sie war getrennt von ihren beiden größeren Kindern, die damals drei und sechs Jahre alt waren. Die dreijährige Tochter, meine Tante Waltraud, starb in ihrer Abwesenheit, und sie sah sie nie wieder. Was aus ihrem Mann, meinem Großvater, geworden war, wusste sie lange nicht.
Zu glauben, all das hätte keinen Einfluss darauf gehabt, wie meine Großmutter meine Mutter bemuttert hat, und wie danach meine Mutter mich, wäre nicht nur unrealistisch, sondern einfach unmenschlich.
Lass uns anfangen damit, uns gegenseitig als Menschen zu sehen, die ihr Bestes geben. Und ganz besonders auch unsere Mütter!
Kennst Du jemanden, für den dieser Text eine Inspiration sein könnte? Dann sende ihn weiter. Möchtest Du mehr über diese Themen lesen? Dann trag Dich in meine Liste ein. Austragen jederzeit möglich. Kein Spam. Jemals.
Ich bin Jeanne, Menschenmensch, und fasziniert von der Frage, wie wir unser bestes Leben leben.
In meinen Coachings und Seminaren vermittle ich neben praktischem Wissen auch Strategien und Techniken zur Selbstführung, um zu sich selbst und seiner ganzen Kraft und Lebensfreude zu finden.
Erwachsen zu sein bedeutet für mich, eng verbundene Beziehungen zu genießen, die eigenen Werte im Alltag zu leben, für die eigene Fitness und Gesundheit zu sorgen und einer Arbeit nachzugehen, die einen Beitrag leistet und die eigenen Stärken und Fähigkeiten ausdrückt.