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Menschen-Schreck oder Menschen-Magnet?

Ich öffnete die Tür zur Terrasse und schnappte nach Luft. Es war kurz nach Mitternacht. Drinnen dröhnte ohrenbetäubende Musik und das Wasser lief an den Fenstern herunter, weil es so stickig war. Auch draußen war es noch laut, dennoch konnte ich mich gut mit einem Mann unterhalten, den ich dort zufällig traf. Genau wie ich war er Lärm und Hitze entflohen.

Foto von Helena Lopes auf Unsplash

Veröffentlicht am 01.10.2023 von Jeanne

Dieser Mann war, wie fast alle Partygäste, ein Fremder, den ich nie zuvor gesehen hatte. Wir plauderten. Nach ein paar Minuten gesellte mein Mann sich zu uns und wir unterhielten uns zu dritt.

Die Party fand etwa 20 Autominuten von unserem Zuhause entfernt statt, und der Fremde bot uns aus freien Stücken an, uns nach Hause zu fahren. So konnten wir unseren Wagen stehen lassen, falls wir Alkohol trinken wollten. 

Nett von ihm.

Als wir wieder zu Zweit waren, sagte mein Mann (der nicht zu Eifersucht neigt) ein bisschen vorwurfsvoll: „Na, Ihr fandet Euch ja richtig toll!“

Ich lachte.

Und freue mich immer noch.

Ich kann mich nicht erinnern, wie der Fremde hieß oder aussah. Ich weiß auch nicht mehr, worüber wir gesprochen haben. Doch mein Mann (und der Fremde sicher auch) hatten für den Moment das Gefühl, dass ein herzlicher Kontakt entstanden war.

Und das ist eigentlich erstaunlich. Denn lange Zeit in meinem Leben war ich nicht besonders gut im Umgang mit anderen.

Party
Party Foto von Adi Goldstein auf Unsplash

Soziale Fähigkeiten als Schlüssel

Als eher introvertierter Mensch bin ich von Natur aus schüchtern. Doch das größere Hindernis, das mir lange Zeit den Weg zu guten Kontakten verstellt hat, war ein ganz anderes. 

Früher habe ich mich oft unwohl mit anderen gefühlt, und diese haben sich ebenso unwohl mit mir gefühlt. Ich dachte, dass mit mir irgendwas nicht stimmte ... Dabei lag es nicht an mir als Mensch. Sondern an meinen mangelnden sozialen Fähigkeiten.

Und ohne es gewollt und bemerkt zu haben, hat mein Mann mir an jenem Abend bei der Party bestätigt, dass ich diesbezüglich große Fortschritte gemacht habe. 

„Ja, er war sympathisch“, antwortete ich. „Aber dass wir so ein angenehmes Gespräch hatten, ist das Ergebnis angewandter sozialer Fähigkeiten, die ich beherrsche, weil ich sie seit Jahrzehnten übe und seit fast 20 Jahren als Trainerin mit anderen verfeinere.“

Wir entwickeln unsere sozialen Fähigkeiten 

Denn es ist so: Soziale Fähigkeiten sind einerseits nicht angeboren – wir müssen sie erlernen. Andererseits erwerben wir viele Aspekte sozialer Kompetenzen schon lange, bevor wir sprechen, uns erinnern und bewusste Entscheidungen treffen können. Deshalb scheint es so, als seien diese Fähigkeiten angeboren oder in der Persönlichkeit bedingt, dabei sind sie bloß das Ergebnis von Lernerfahrungen. 

Lernfenster für soziale Kompetenz

Dr. Bruce Perry gilt als einer der wichtigsten Kinderpsychologen der USA. In seinem Buch „Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde“ (der reißerische Aufmacher wird dem Inhalt des Buches leider nicht gerecht) beschreibt er, wieso unsere ersten Lebenserfahrungen und frühen Lebensjahre maßgeblich dafür sind, soziale Fähigkeiten zu entwickeln. In bestimmten Entwicklungsstufen werden bestimmte Kompetenzen, die aufeinander aufbauen, mit natürlicher Leichtigkeit erlernt. Wenn diese Lernfenster geschlossen sind oder eine Stufe von Fähigkeiten fehlt, wird es ungleich schwieriger, die gleichen Skills zu erwerben.

Je kleiner das Kind, desto größer die Erfahrungswirkung

In unseren ersten Lebensjahren entwickeln wir unsere sozialen Fähigkeiten besonders stark. Aufgrund der anfangs exponentiellen Entwicklung der neuronalen Verbindungen in unserem Gehirn haben die ersten zwölf Lebenswochen einen größeren Einfluss auf die Entwicklung eines Menschen als die darauffolgenden zwölf Jahre. 

Wenn also ein Kind ideal versorgt wäre in den ersten zwölf Wochen, und danach aus dieser Umgebung gerissen würde und darauf zwölf schreckliche Jahre folgten, wäre das für die Entwicklung günstiger, als wären die ersten zwölf Lebenswochen fürchterlich und die darauffolgenden zwölf Jahre sehr gut. 

Das muss man sich mal vorstellen: Ein neugeborenes Kind zwölf Wochen lang etwas erleben zu lassen hat eine stärkere Wirkung, als einen größeren Menschen demselben Erleben über mehr als eine Dekade auszusetzen.

Es ist also von fundamentaler Bedeutung, dass Kinder gut behandelt werden. Wobei gut nicht ideal sein muss – gut genug reicht für eine gute Entwicklung aus.

Gut genug heißt sicher

Dr. Perrys Kerngedanke ist, dass unsere emotionale Grundtonart daraus entsteht, wie sicher wir uns als Kinder gefühlt haben. Sicherheit entsteht für Kinder, wenn sie sich verstanden und beschützt fühlen. Wenn ihre Bedürfnisse feinfühlig verstanden und einfühlsam beantwortet werden, lernen sie Bindung und sozialen Umgang.

Wenn das jedoch nicht oder nicht gut genug gelingt, ergibt sich daraus ein Mangel an sozialen Fähigkeiten. Oft fällt es den Betroffenen dann schwer, mit anderen zu interagieren, Beziehungen aufzubauen und eigene Emotionen zu regulieren – die Basis sozialer Kompetenz.

An Stellen, wo wir als Kinder nicht bekommen haben, was wir gebraucht hätten, entwickeln wir Workarounds. Wir eignen uns Überzeugungen und Verhaltensweisen an, die oft dafür ausreichen, einigermaßen mit anderen zurecht zu kommen. Doch unsere wahre Kompetenz als soziale Wesen entfalten wir nicht.

Erwachsene verhalten sich gemäß ihrer Kindheitserfahrung

So kommt es, dass Susanne in wichtigen Meetings ihre Gedanken nicht klar auszudrücken vermag. Ralf hingegen unterbricht andere, weil er den richtigen Zeitpunkt zu sprechen nicht erkennt. Die Kollegen der beiden verstehen sie oft nicht, schätzen Susanne falsch ein und fühlen sich von Ralfs Unterbrechungen gestört oder sogar gekränkt.

In solchen Fällen haben Kollegen einfach keine Lust, mit diesen Menschen zusammenzuarbeiten – mit negativen Folgen für Teamdynamik und Arbeitsqualität.

Norbert dagegen hört nicht zu und redet zu viel über sich selbst. Wenn andere etwas sagen, wartet er nur auf eine Gelegenheit, das Gespräch wieder an sich zu reißen. Er dominiert jede Gesprächsrunde. Wenn Nachbarn ihn sehen, wechseln sie die Straßenseite, um ihm nicht in die Arme zu laufen.

Petra ist das genaue Gegenteil. Jeder mag sie, weil sie so hilfsbereit ist und immer an alle denkt. Sie ist freundlich, wird aber oft nicht ernst genommen. Ihre Tochter wirft ihr Harmoniesucht vor und die beiden streiten sich oft deswegen. Petra ist auch sehr müde, weil für ihre eigenen Bedürfnisse in ihrem Leben gar kein Platz bleibt.

So führen mangelnde soziale Fähigkeiten zu Missverständnissen und Konflikten, oft ohne als Ursache der Schwierigkeiten erkannt zu werden.

Social Skills
Social Skills Foto von Priscilla Du Preez auf Unsplash

Der Zusammenhang ist nicht offensichtlich

Häufig sind wir blind dafür, dass wir unsere Probleme mit anderen Menschen selbst erzeugen. Im Coaching arbeite ich gerade mit einem Mann, der ein gutes Herz hat und sich für sein Team sehr ins Zeug legt. Gleichzeitig fühlt er sich schnell in Frage gestellt und angegriffen – in der Überzeugung, dass seine Gesprächspartner unverschämt sind.

Irgendwann sehr früh in seinem Leben hat er offensichtlich gelernt, dass er nicht ernst genommen wird. Dagegen verteidigt er sich nun pausenlos. Ständig muss er sich wehren und gerät sehr oft in Konflikte.

Schwierigkeiten in Beziehungen oder das Gefühl, irgendwie nicht in Ordnung zu sein, sind meist Folgen frühkindlicher Erfahrungen. Da wir uns an diese aber nicht mal erinnern, bedarf es Forschergeist, sich selbst auf die Schliche zu kommen.

Um Probleme zu lösen, muss man sie zuerst verstehen

Erst als Mutter habe ich verstanden, wie verletzlich Kinder sind. Wenn wir als Erwachsene in Streit geraten oder mit der Qualität unserer Freundschaften nicht zufrieden sind, lohnt es sich, einen (oder viele) Blicke zurückzuwerfen.

Wo fühlten wir uns als Kinder nicht sicher oder nicht liebenswert? Und welche Überzeugungen haben wir daraus entwickelt?

Die Wirkung davon bewegt sich auf einem Spektrum. Auch wenn unsere Kindheit „ganz normal“ verlaufen ist, haben wir bestimmte Verhaltensweisen nicht in den üblichen Lernfenstern gelernt. Sich diese Fähigkeiten später anzueignen gelingt nur, wenn wir erkennen, dass wir etwas zu lernen haben.

Die Tatsache, dass wir in unseren frühen Lebensjahren weder sprechen noch uns bewusst erinnern können bedeutet leider nicht, dass diese Erfahrungen nicht mehr wirksam wären. Das sehen wir an den Beispielen oben. Im Gegenteil: Sie prägen unser emotionales Grundgerüst, sehr oft, ohne dass wir überhaupt verstehen, was das Problem ist und wo die Ursachen liegen könnten.

Soziale Skills bewegen sich auf einem Spektrum

Auch wenn ihre Kindheit „normal“ verlaufen ist, haben fast alle Menschen seelische Verletzungen und Entwicklungsschwierigkeiten erlebt. Verschiedene Formen belastender Erfahrungen wirken sich unterschiedlich auf Kinder (und später Erwachsene) aus, weshalb Symptome und Reaktionen vielfältig sind.

Unentspannt im Kennenlernen

Mit Beginn meines Berufslebens wurde mir von allen Seiten empfohlen, Networking zu betreiben, um meinen Erfolg zu unterstützen. Doch Networking-Veranstaltungen waren mir ein Graus. Neue Leute zu treffen war purer Stress für mich und ich fühlte mich umso unbehaglicher, je mehr Fremden ich auf einmal ausgesetzt war.

Ich hätte es damals nicht so genannt, doch meine mangelnde Sozialkompetenz machte es mir schwer, in Gesprächen angemessen zu reagieren. Ich fiel mit der Tür ins Haus, verharrte bei Themen, die nicht vertieft werden sollten, wechselte das Thema, obwohl es noch im Gange war oder machte versehentlich unangemessene Bemerkungen. Ich hatte im Voraus kein Gefühl dafür, ob ich zu persönlich werde (und merkte es voller Reue erst, wenn es zu spät war). Aus dem Wunsch heraus, hilfreich zu sein, gab ich auch oft Ratschläge. Kurz: ich eckte an und konnte auch auf subtile Signale oft nicht richtig reagieren.

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Sich unwohl fühlen im Kontakt

Das Ergebnis: Andere haben sich unwohl mit mir gefühlt. Da ich sehr feinfühlig bin, habe ich das wahrgenommen, ohne jedoch etwas dagegen tun zu können. Mit meinem merkwürdigen Verhalten und meinen Taktlosigkeiten habe ich bei anderen den Eindruck erweckt, ich sei desinteressiert oder unsensibel. Die haben sich daraufhin zurückgezogen oder sich anderen zugewendet, mit denen sie sich wohler gefühlt haben. Das wiederum hat mich noch mehr verunsichert. Kontakte - besonders mit Fremden - waren Minenfelder für mich.

Die Summe meiner Kindheitserfahrungen hat dazu geführt, dass ich früher zwischen Distanzlosigkeit und Isolation geschwankt habe, was alle meine Beziehungen belastet hat.

Doch meine Taktlosigkeit war mir auch nützlich: Ich konnte mich schon immer recht gut durchsetzen und zur Wehr setzen. Vor vielen Menschen zu sprechen fiel mir von jeher leicht (die Ablehnung, die ich dafür anschließend manchmal geerntet habe, allerdings überhaupt nicht). Die Unfähigkeit, vorher zu wissen, dass etwas, das ich sage, jemanden kränkt, gab mir eine gewisse Unerschrockenheit, die mir oft geholfen hat.

Wie Medaillen haben die Erfahrungen, die wir sammeln, meist zwei Seiten.

poor social skills
Taktlosigkeit Foto von Andre Hunter auf Unsplash

Objektiv sicher kann sich unsicher anfühlen

Als ich erfuhr, was Fachleute wie Dr. Perry über „artgerechte Menschhaltung“ nachgewiesen haben, war das für mich eine Offenbarung.

Ich bin zu früh zur Welt gekommen und wurde sofort von meiner Zwillingsschwester und meiner Mutter getrennt. So hatte ich in den ersten Lebenswochen viel zu wenig sozialen Kontakt und einfühlsame Begegnung.

Babies brauchen aufgrund ihrer Unreife vor allem Sicherheit, die sie durch körperliche Nähe erfahren. Als meine Kinder neu waren, erlebte ich, wie selbstverständlich und richtig es sich anfühlt, sie pausenlos am Körper zu tragen.

Ich selbst war stattdessen als Neugeborene allein im Brutkasten und wurde nur alle vier Stunden von verschiedenen Fremden gewickelt und gefüttert. In den Wochen exponentieller Entwicklung in meinem Gehirn! Jahrzehnte später habe ich erkannt, dass diese Erfahrung sich bei mir als ein Gefühl des Nichtsicherseins eingeprägt hat.

Der Effekt (von natürlich nicht nur dieser einen Erfahrung): Ich bin irgendwie merkwürdig geworden. Ich habe mich so gefühlt und wurde von anderen auch so wahrgenommen. Dr. Perry schreibt: „Auf den relationalen und sozialen Kommunikationssystemen des Gehirns liegen die Schatten der unterbrochenen Fürsorge in der frühen Kindheit.“

Dein Unwohlsein teilt sich mit

Bruce Perry schildert, dass uns ein vages Unwohlsein in Kontakt mit solchen Menschen beschleicht, weil wir „etwas Seltsames oder Unnatürliches in der Begegnung wahrnehmen.“

„Wie Menschen, die eine fremde Sprache spät in ihrem Leben erlernen“ werden Menschen, deren Sicherheitsgefühl unterbrochen oder geschwächt wurde „die Sprache der Liebe nie akzentfrei sprechen.“

Nun hat Dr. Perry vor allem mit Kindern gearbeitet, die es entsetzlich schwer hatten. Bewegt sich die Kindheitserfahrung in einem „normalen“ Rahmen, ist die Einschränkung natürlich weitaus geringer, und man kann, so wie ich, die Defizite recht gut ausgleichen – sofern man Geduld mitbringt. Die ist allerdings schon nötig, denn es bleibt bei Dr. Perrys grundlegender Erkenntnis, dass das Erlernen sozialer Kompetenzen außerhalb des natürlichen Lernfensters schwierig ist.

Vertreiben durch Anklammern

Eine Freundin von mir schilderte kürzlich, wie belastet sie sich von einer nahen Verwandten fühlte, weil die sich wie eine Klette an sie klammerte, wenn sie nur in deren Nähe kam. Beim Zuhören beschlich mich ein doppelt unangenehmes Gefühl. Einerseits, weil klettiges Verhalten von anderen auch bei mir starke Fluchtreflexe auslöst. Andererseits, weil ich weiß, dass ich mich früher selbst an Leuten festgeklammert habe.

Was wir lange kennen, empfinden wir als "normal"

Heute weiß ich: Ich hatte diese unbestimmte, damals noch unerklärliche Unsicherheit in meinem Inneren, die ich nicht mal als solche wahrnehmen konnte. Erklär mal einem Fisch das Wasser. Meine Unsicherheit war so früh in meinem Leben entstanden, dass ich mich an keinen anderen Zustand erinnern konnte.

Viel, viel später hörte ich regelmäßig eine geleitete Meditation, in der ich mir sagte: Ich fühle mich sicher in meinem Körper. Jedes Mal, wenn ich mir bewusst machte, dass ich in Sicherheit bin, registrierte ich eine Veränderung, die mir klar machte, dass ich mich noch in der Sekunde davor unsicher gefühlt hatte. Ohne mir dessen bewusst zu sein.

Unsicherheit war mein Grundakkord.

Übrigens auch ein Grund dafür, dass ich früher von Herzenseinsamkeit betroffen war.

Als soziale Wesen finden wir Sicherheit bei anderen

Wenn nun im Äußeren unübersichtliche Situationen auftraten, brauchte ich Halt. Ich hatte mit einer Person ein paar Worte gewechselt? Sie war nett zu mir gewesen? Sie war mir etwas weniger fremd als die anderen Fremden? Also klettete ich mich an sie (und erzeugte damit im Gegenüber einen Fluchtreflex, den ich sehr schnell wahrnahm, was meine Unsicherheit zusätzlich vergrößerte).

Der renommierte kanadische Mediziner, Redner und Autor Dr. Gabor Maté ist für seine Expertise zu Sucht, Stress und kindlicher Entwicklung weltweit anerkannt.

Er erklärt, dass Kinder aufgrund ihrer Unreife zum Zeitpunkt der Geburt und dem langen Zeitraum, den sie von ihren Eltern abhängig sind (sie sind später ausgewachsen und selbständig als alle anderen Lebewesen), das Bedürfnis nach Bindung als Überlebensmechanismus in ihre Natur eingebaut haben.

Das heißt, wir brauchen als Kinder andere Menschen unbedingt. Wenn wir dann gleichzeitig nicht über die sozialen Fähigkeiten verfügen, uns mit ihnen gut zu fühlen und gemocht zu werden, wird das Leben kompliziert.

Sicher aufgehoben
Sicher aufgehoben Foto von Caroline Hernandez auf Unsplash

Erfahrungen addieren sich

Nach meinen ersten Lebenswochen allein im Brutkasten durfte ich nach Hause. Dort hat meine Oma – wie sehr viele anderen Frauen ihrer Generation – meiner Mutter in den ersten Wochen mit den neuen Babies geholfen.

Diese Hilfe sah unter anderem so aus, dass sie uns nachts in unseren Wiegen in einen Raum geschoben hat, in dem wir schreien konnten, ohne unsere übermüdete Mutter zu wecken. (U. a. über die Auswirkungen des Krieges auf den Umgang mit Kindern in Deutschland habe ich hier geschrieben.)

Erst Jahrzehnte später, als ich selbst kleine Babies hatte, habe ich ein Gefühl dafür entwickelt, wie beängstigend es für mich gewesen sein muss, mich allein in den Schlaf zu weinen. Und wie ich zu der Überzeugung gekommen bin, dass keiner kommt, wenn ich Hilfe brauche. Kinder sollten sich nicht in den Schlaf weinen, und erst recht nicht allein!

Und so habe ich allmählich verstanden, wie stark diese (und auch noch andere) Erfahrungen von Verlassenheit mich geprägt haben.

Heute sehe ich es so, dass mein nicht erfülltes Bedürfnis nach sicherer Aufgehobenheit in der körperlichen und emotionalen Nähe meiner Mutter der Auslöser dafür war, dass ich mich vor allem in jungen Jahren an jeden klammerte, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte.

Kindheitserfahrung als Grundlebensgefühl

Gabor Maté schildert, wie stark die Erfahrungen seines ersten Lebensjahres als jüdisches Kind im von den Nazis besetzten Ungarn ihn geprägt haben. Maté beschreibt, dass die ständige Bedrohung und die damit verbundene Unsicherheit während dieser Zeit sein Nervensystem in einen Zustand permanenter Alarmbereitschaft versetzt hat.

Dieser anhaltende Zustand von Stress und Angst hat seine Entwicklung beeinflusst und zu langfristigen Auswirkungen auf seine psychische und körperliche Gesundheit geführt.

Genau wie Dr. Perry und viele andere Fachleute betont Dr. Maté die nicht zu unterschätzende Bedeutung frühkindlicher Bindung und der Beziehung zur Mutter in den ersten Lebensmonaten.

Gabor Maté wurde als Säugling für ein paar Wochen von seiner Mutter getrennt (was ihn wahrscheinlich vor der Ermordung durch die Nazis gerettet hat). Er schildert, dass dies eine weitere Schicht emotionalen Schmerzes und Verlustes in sein Leben eingefügt hat.

Das, was Dr. Maté passiert ist, ist ziemlich schrecklich, genau wie die Erfahrungen, die Dr. Perry in seinem Buch „Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde“ schildert. Wieso können wir trotzdem davon lernen, auch wenn unsere Kindheit im Vergleich dazu ziemlich in Ordnung war?

Gestern verstehen, um heute zu gestalten

Gabor Maté ermutigt dazu, das eigene Leid nicht mit dem größeren Leid anderer zu relativieren. Schmerz ist immer eine subjektive Erfahrung, die von den individuellen Lebensumständen, der Persönlichkeit, den genetischen Faktoren und dem sozialen Kontext beeinflusst wird. Was für eine Person schmerzhaft ist, muss es für eine andere Person nicht sein. Daher ist es nicht sinnvoll, Erfahrungen zu vergleichen oder zu beurteilen, wer "Schlimmeres" oder "weniger Schlimmes" durchgemacht hat.

Zu erkennen, dass wir mehr oder weniger alle in unserer Kindheit Erfahrungen gemacht haben, die uns in unserem Erwachsenenleben daran hindern, rundum glücklich und erfüllt zu leben, ist der Schlüssel zu persönlicher Entwicklung.

Statt unsere individuellen Erfahrungen zu bewerten oder zu vergleichen, können wir uns ihnen zuwenden und entdecken, an welchen Stellen wir feststecken, um immer mehr zu uns selbst zu finden. Wenn das gelingt, fühlen wir uns mit uns selbst immer wohler - und dann erst fühlen sich auch andere wohl mit uns.

Vertraust Du Deinem Bauchgefühl?

Gabor Maté erläutert, dass die Probleme unseres Erwachsenenlebens dadurch entstehen, dass wir uns als Folge von unterbrochener Bindung an unsere wichtigen Bezugspersonen von uns selbst trennen.

Das klingt abstrakt, lässt sich sehr jedoch sehr leicht feststellen. Maté bittet bei seinen Vorträgen seine Zuhörer, sich zu melden, wenn sie schon einmal etwas getan oder unterlassen haben, hinterher eine schlechte Erfahrung damit gemacht haben, und dann sagen: das habe ich vorher gewusst. Fast alle Hände in seinem Publikum gehen hoch. Wir hatten ein Bauchgefühl, und haben es übergangen.

Und das ist es, was die Trennung von uns selbst ausmacht. Maté argumentiert, dass kaum ein Mensch, der von seiner Intuition abgeschnitten ist, in freier Natur überleben würde. Wir sind also nicht in unserer vollen Kraft, wenn wir unsere innere Stimme nicht hören (oder sie zwar hören, aber übergehen).

Die Lösung liegt in uns selbst

Das Großartige an dieser Erkenntnis ist, dass die Lösung unserer Probleme darin liegt, die Verbindung zu uns selbst wieder herzustellen. Wir brauchen niemand anderen, um die kleinen oder größeren Risse in unseren sozialen Kompetenzen zu kitten.

Es erfordert Geduld, Anstrengung und bewusste Arbeit. Bruce Perry hat nachgewiesen, dass das Gehirn in jungen Jahren am flexibelsten ist und sich besonders stark an Erfahrungen anpasst. Es ist wie ein Schwamm, der Informationen und Fähigkeiten aufsaugt.

Wenn wir also schon in den ersten Lebenswochen oder Monaten die Überzeugung gewinnen, dass keiner kommt, wenn wir Nähe und Wärme brauchen, oder dass wir verlassen sind, ist eine mächtige Programmierung in unserem Gehirn wirksam.

Doch das anzuerkennen ist kein Grund, den Kopf hängen zu lassen. Früher glaubte man: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Doch das ist längst widerlegt.

Neuroplastizität lässt Entwicklung in jedem Alter zu

Die Forschung hat nachgewiesen, dass das Gehirn sich während des gesamten Lebens eines Menschen verändert und wächst.

Wenn wir üben, können wir sehr gute Beziehungen aufbauen und immer besser angemessen in sozialen Situationen reagieren. Wir können üben, Vertrauen in uns selbst und andere aufzubauen.

Mein eigenes Beispiel zeigt, dass wir so gut darin werden können, dass andere gar nicht mehr erkennen können, dass wir mal merkwürdige Elefanten im Porzellanladen waren.

Plötzlich denken wildfremde Leute auf einer Party, dass Du sie richtig toll findest, und fühlen sich mit Dir so wohl, dass sie Dir anbieten, Dich durch die Stadt zu fahren. Obwohl Du einfach nur Gesprächstechniken eingesetzt hast. (Und Dich dabei pudelwohl gefühlt hast.)

Mit dem Verständnis wächst das Mitgefühl mit anderen

Gleichzeitig mit unserer eigenen Entwicklung beginnen wir zu verstehen, dass Leute, die sich merkwürdig benehmen, nicht unbedingt einen schlechten Charakter haben.

Wir wissen, dass ihr Verhalten oft darauf zurückzuführen ist, dass ihre sozialen Fähigkeiten an der ein oder anderen Stelle ein Update benötigen.

Das führt zu einer weiteren Verbesserung unserer sozialen Fähigkeiten, weil wir uns nicht mehr herausgefordert oder gekränkt fühlen, wenn jemand sich taktlos oder anderweitig merkwürdig verhält.

Wir können freundlich und entspannt bleiben in der Begegnung und erleben, wie es immer leichter wird, uns mit anderen zu verbinden und die Zeit in Gesellschaft zu genießen.

Menschen sind Rudeltiere

Am besten geht es uns, wenn wir uns mit anderen verbinden können. Unsere eigenen sozialen Fähigkeiten weiter zu verbessern und einfühlsamer anderen gegenüber zu werden, trägt wesentlich zu unserem Lebensglück bei. Je früher wir beginnen, unsere sozialen Fähigkeiten zu stärken, desto erfüllender werden unsere Beziehungen und desto positiver unsere Wirkung auf die Menschen um uns herum.

Ob andere Menschen sich mit Dir wohlfühlen (und Du Dich auch mit ihnen) wirkt sich auf alle Bereiche Deines Lebens aus: Wenn es Dir gelingt, Dich zu Hause, in der Familie, mit Freunden und am Arbeitsplatz angemessen zu verbinden, gedeiht Dein privates Glück gleichzeitig mit Deinem beruflichen Erfolg.

Welche Werkzeuge helfen, Deine sozialen Kompetenzen praktisch zu üben, erfährst Du, wenn Du Dich in meine Liste einträgst. Denn dann bekommst Du per Mail mein E-Book 8 soziale Fähigkeiten für herzliche Verbindung.

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Ich bin Jeanne, Menschenmensch, und fasziniert von der Frage, wie wir unser bestes Leben leben. 

In meinen Coachings und Seminaren vermittle ich neben praktischem Wissen auch Strategien und Techniken zur Selbstführung, um zu sich selbst und seiner ganzen Kraft und Lebensfreude zu finden. 

Erwachsen zu sein bedeutet für mich, eng verbundene Beziehungen zu genießen, die eigenen Werte im Alltag zu leben, für die eigene Fitness und Gesundheit zu sorgen und einer Arbeit nachzugehen, die einen Beitrag leistet und die eigenen Stärken und Fähigkeiten ausdrückt.