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Das Glück lauert überall

Gerade, als sich die Tür hinter uns zu schließen begann, hechteten ein Herr und eine Dame zu uns in den Aufzug. Obwohl sie uns aufgehalten hatten, denn die Tür hatte sich für die beiden noch einmal geöffnet, würdigten sie uns keines Blickes.

Foto von Kyle Glenn auf Unsplash

Veröffentlicht am 27.01.2024 von Jeanne

An der Anzeige leuchtete bereits der Knopf für das Erdgeschoss, wo mein Mann und ich aussteigen wollten. Der alte Herr bat seine Frau, für das Parkhaus zu drücken.

„Haben Sie keine Mäntel in der Garderobe?“ fragte ich, denn es schneite seit Stunden und war eisig kalt draußen.

Er strahlte mich freundlich an und sagte: „Ach, doch, natürlich!“ 

Ich lachte: „Dann lade ich Sie herzlich ein, mit uns im Erdgeschoss auszusteigen.“ (wo sich die Garderobe befand).

Er, zu seiner Frau: „Siehst Du, das lehrt mich gleich wieder, nie Fremde zu ignorieren.“

Lachend plauderten wir nun zu viert und gingen, gemeinsam kichernd und Witze über die Garderobenzahlen machend, unsere Mäntel holen.

Und schon trennten sich unsere Wege wieder. Höchstens fünf Minuten hatten wir miteinander verbracht, doch hinterließ die kurze Interaktion ein warmes, lebendiges Gefühl in meinem Körper.

Kennst Du dieses Glück auch, 

das sich nach einem gemeinsamen Lachen in Deinem Körper verteilt? Selbst wenn es sich nur aus einer oberflächlichen Begegnung mit Fremden ergeben hat?

In dem Buch „The Good Life … und wie es gelingen kann“ schildern die Autoren Robert Waldinger und Marc Schulz, dass wir unsere Begegnungen mit anderen Menschen mit unserem ganzen Wesen erleben. 

So, wie Verbundenheit sich gut anfühlt, kann das Fehlen derselben körperliche Schmerzen und Krankheiten verursachen.

Das Gefühl der Wärme und Sicherheit, wenn wir daran denken, jemanden zu lieben und zurück geliebt zu werden. 

Die Verbundenheit, mit einem Freund eine schöne Erfahrung zu teilen. 

Das Hochgefühl, wenn jemand, den wir schätzen, etwas anerkennt, bei dem wir uns Mühe gegeben haben. 

Oder eben der Energieschub nach einem gemeinsamen Lachen.

Für mich sind das kleine Sternstunden, und ich nehme sie vielleicht bewusster wahr als andere, weil es mir früher schwergefallen ist, mich mit anderen Menschen wirklich wohlzufühlen. 

Und das, obwohl ich immer unter meiner Einsamkeit gelitten habe, und mir Verbundenheit mit anderen gewünscht habe.

Heute gerate ich oft und leicht in diesen Zustand, in dem ich die Gegenwart anderer genieße. Natürlich ist es besonders schön, sich mit den liebsten und wichtigsten Menschen verbunden zu fühlen, aber nicht nur. 

Als soziale Tiere brauchen wir die Nähe zu anderen Menschen

Robert Waldinger und Marc Schulz schreiben: „Der vorgeschichtliche Mensch musste sich mit Bedrohungen auseinandersetzen, die wir uns heute kaum mehr vorstellen können. Körperlich unterschied er sich zwar nicht sehr von uns, doch hatte er nur minimalen Schutz vor seiner Umgebung und den darin lauernden Beutegreifern. Unsere Vorfahren lebten ein kurzes und mühseliges Leben voller Angst und überlebten trotzdem. Warum? Weil sie sich zu Gemeinschaften zusammentaten.“

Die beiden Autoren leiten eine der längsten Langzeitstudien weltweit zu menschlichem Glück und Wohlbefinden, die Harvard Study of Adult Development, die seit 1938 das Leben von Menschen umfassend betrachtet. 

Die wichtigste Erkenntnis der Studie: gute Beziehungen sind für Gesundheit und Wohlbefinden wichtiger als Bewegung und gesunde Ernährung zusammen.

Doch wie schafft man es, gute Beziehungen zu haben? 

Neben Respekt, Vertrauen und Anpassungsfähigkeit ist es vor allem die Kommunikation, die darüber entscheidet, wie es uns mit anderen geht.

„Ein großer Teil der menschlichen Kommunikation ist ausgeklügelt und subtil.“, stellt Dr. Bruce Perry, einer der wichtigsten Kinderpsychiater und Hirnforscher der USA, fest.

Wie schwierig die Kommunikation zwischen Menschen ist, begreift man besonders gut, wenn man es wie Perry mit Menschen zu tun bekommt, die nicht einmal die Grundlagen derselben erlernt haben. 

In seinem sehr lesenswerten Buch „Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde“ erzählt Perry u. a. von seinem Patienten Connor, der in seinen ersten eineinhalb Lebensjahren stark vernachlässigt worden war.

Die ersten Lebenswochen und -monate sind für die Entwicklung von Menschen von größter Bedeutung. 

Normalerweise bringen uns unsere engen Bezugspersonen in dieser Lebensphase die Grundlagen sozialer Interaktion bei. Bei Connor hatte das nicht stattgefunden.

Als er mit 14 Jahren Dr. Perry kennenlernte, hatte er eine lange Odyssee von Facharzt zu Facharzt hinter sich. Ihm war unter anderem Autismus diagnostiziert worden. 

Der Wunsch, sich mit anderen verbunden zu fühlen

Perry berichtet: „Mir fiel auf, dass er sich danach sehnte, sich auf andere Menschen zu beziehen, was bei echten Autisten selten vorkommt. Er war in sozialen Dingen unbeholfen, das stimmt, aber er ließ nicht das völlige Desinteresse an sozialen Beziehungen erkennen, was das Hauptmerkmal von Autismus ist.“

Mich spricht das sehr an, weil mir früher öfter das Feedback gegeben wurde, ich hätte autistische Züge. Mit diesem Etikett konnte ich nicht viel anfangen, doch inzwischen weiß ich, was gemeint war.

Ich habe andere irritiert, weil ich äußerlich nicht reagierte. Dieses Reglose entstand beispielsweise, wenn ich mich angegriffen fühlte.

Zu schweigen war jedoch schon die Verbesserung zu dem, wie ich mich vorher verhalten hatte. Ich bin schnell mit Worten, und habe früher mit meiner Schlagfertigkeit oft verbrannte Erde hinterlassen.

Um das nicht mehr zu tun, hatte ich mir angewöhnt, erst mal zu schweigen und nachzudenken, bevor ich den anderen vorschnell mit Worten niederstrecke.

Doch Schweigen ist natürlich meistens keine beziehungsförderliche Antwort.

Auch heute noch erscheine ich nach außen gelegentlich unbewegt. Bis heute kann ich manchmal nicht auseinander halten, ob etwas als Angriff oder Feedback gemeint ist.

Wenn ich nicht weiß, was ich mit einer Rückmeldung anfangen soll, brauche ich Zeit, herauszufinden, was das Gehörte für mich bedeutet.

Allzu oft kränken einen Dinge gerade deshalb, weil sie einen wunden Punkt treffen und die Wahrheit offenlegen. Dann ist es klug, sie nicht gleich abzuwehren, denn sie können einem helfen, zu wachsen.

Für solche Rückmeldungen bin ich dankbar und möchte sie nicht mit einer vorschnellen Abwehr für das nächste Mal im Keim ersticken.

Oft gelingt es mir jetzt, zu sagen: „Was Du sagst überrascht mich. Darüber muss ich erst mal nachdenken.“ Damit wirke ich nicht mehr so „autistisch“ wie früher.

Doch lange Zeit haben mir dafür regelrecht die Vokabeln gefehlt.

Manchmal wissen wir einfach nicht, was jemand meint. Oder wir verstehen nicht, was der andere sagen will oder worauf es ihm eigentlich ankommt.

Anderssein
Foto von Ilse Orsel auf Unsplash

Ich habe mich früher oft wie ein Zebra in einer Pferdeherde gefühlt. Ich kann mir vorstellen, dass es Dr. Perrys Patient Connor auch so gegangen ist.

Oder dass er sich sogar so sehr anders fühlte, dass er sich wie eine Giraffe in einer Pferdeherde vorkam, denn seine „autistische“ Art war bei ihm sicher ausgeprägter als bei mir.

Jedenfalls erzählte er Dr. Perry, dass er darunter litt, keine Freunde zu finden und viel von Gleichaltrigen gehänselt zu werden. Perry wollte ihm beibringen, sich mit anderen anzufreunden und arbeitete mit ihm an seinem Verhalten.

Connor wich beispielsweise jedem Blickkontakt aus. Perry berichtet: „Ich sagte ihm, dass Menschen Blickkontakt angenehm finden, und dass es deshalb wichtig ist, Menschen anzusehen, während man ihnen zuhört und mit ihnen spricht.“

Der Jugendliche war entschlossen, alles richtig zu machen, und starrte ihn von diesem Moment an genauso unbeweglich an, wie er zuvor jeden Blickkontakt vermieden hatte.

Hmm. Das war zwar, was der Arzt gesagt hatte, doch nicht, was er mit seiner Anleitung bewirken wollte.

1000 Kleinigkeiten wirken in der Kommunikation

Also erklärte er dem Jungen weiter, dass man sein Gegenüber nur für eine kurze Weile anschaut und dann wieder den Blick abwendet.

Der wissbegierige Patient konnte mit dieser Erklärung nicht viel anfangen und fragte nach.

„Er wollte wissen, wie lange er genau schauen muss. Das konnte ich ihm natürlich nicht sagen, weil solche Dinge sehr vom Kontext abhängen.“ schildert Perry.

„Während wir übten, merkte ich rasch, dass wir mehr soziale Hinweise verwenden, als ich mir jemals vorgestellt hatte. Und ich hatte keine Idee, wie ich sie ihm vermitteln konnte.“

Wenn sein Patient nach Augenkontakt wegsah, drehte er sein ganzes Gesicht weg, statt einfach nur den Blick abzuwenden. Oder er sah nach dem Augenkontakt nach oben und verdrehte die Augen, wodurch er, ohne es zu wollen, Langeweile oder Missbilligung ausdrückte.

„Es war, als wolle man einem Außerirdischen menschliche Kommunikation beibringen.“ schreibt Perry.

Nun ist menschliche Erfahrung und das daraus entstehende Verhalten kein binärer Vorgang nach dem Motto: Gelernt oder nicht gelernt. Gekonnt oder nicht gekonnt. Sondern es gibt dazwischen viele Abstufungen und Schattierungen.

Perry hat in seiner Karriere Extremfälle nicht artgerechter Menschhaltung kennengelernt und ich gehe dankbar davon aus, dass Du oder ich solcher Unmenschlichkeit nie in unserem Leben begegnen.

Wir können aber sehr viel aus dem lernen, was Perry herausgefunden hat in seinem Bemühen, emotional verletzten Menschen zu helfen.

Wenn sich Prägungen auf einem Spektrum bewegen und etwas hilfreich ist für jemanden, der Extremes erlitten hat, hilft es auch den Menschen, die weniger betroffen sind.

Perry erklärt verständlich, was für die Entwicklung von Menschen förderlich ist, und vor allem, was man tun kann, Menschenskindern zu helfen, die nicht erlebt haben, was sie in ihrer Kindheit hätten erleben sollen.

Bedürfnisse von Kindern oft unverstanden

Und davon gibt es viel, viel mehr, als gemeinhin verstanden ist. Perry schreibt, dass wir heute weniger Kinder haben, weiter von unseren Familien entfernt leben und uns in einer weitgehend altersgetrennten Welt bewegen.

Familien mit Kindern bleiben mehr oder weniger unter sich, genau wie junge Berufstätige oder Senioren.

Die Folge davon ist, dass wir, bevor wir selbst Eltern werden, wenig Kontakt zu Kindern haben.

Ich habe viele kinderlose Freunde und meine oft, deren Leben ganz gut zu verstehen, weil es dem sehr ähnlich ist, das ich geführt habe, bevor ich Mutter wurde.

Umgekehrt fühle ich mich in den Punkten, die meine Mutterrolle betreffen, immer wieder nicht verstanden.

Aufgrund der fehlenden Erfahrung im täglichen Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern ist eine Art „Kind-Analphabetentum“ verbreitet, schreibt Perry.

Und das hat enorme Folgen für Familien

Die Wirklichkeit von Familien wird in Teilen nicht verstanden oder anerkennt.

Beispielsweise war finanzielle Unabhängigkeit immer ein sehr hoher Wert für mich.

Gesellschaftlich gilt dieser Anspruch als selbstverständlich. Auch die Gesetze sehen jeden für seine eigene Existenz selbst verantwortlich.

Doch als Mutter lebe ich in einer anderen Realität.

Eine Existenz kann man insbesondere im Hinblick auf eine ausreichende Altersvorsorge nur sichern, wenn man möglichst in Vollzeit, aber wenigstens vollzeitnah, also 32 Stunden die Woche arbeitet.

Dabei wird übersehen, dass Kinder eine enge Beziehung zu ihren Eltern brauchen. Die lässt sich jedoch nicht in einer Stunde Quality Time am Abend erledigen.

Kinder brauchen nicht nur Zugewandtheit und Verständnis. Sie brauchen vor allem auch viel Zeit mit ihren Eltern, wie der kanadische Arzt Dr. Gabor Maté in seinem Buch „Unsere Kinder brauchen uns“ betont.

Der Untertitel des englischen Originals „Warum Eltern wichtiger sein müssen als Gleichaltrige“ ist eine der Kernaussagen von Gabor Maté.

Er ist ausgewiesener Experte zu den Themen Stress und kindliche Entwicklung und zeigt, dass fehlende Nähe zu den Eltern an sich schon Stress für die Kleinen bedeutet.

ElternKind
Foto von Xavier Mouton Photographie auf Unsplash

Eltern leiten Kinder selbstverständlich an und korrigieren Fehlverhalten mit Nachsicht und Verständnis, hält Perry fest.

Findet dies wie bei seinem Patienten Connor nicht statt, wird es schwierig mit dem sozialen Miteinander, denn Gleichaltrige vergeben Fehler weniger und grenzen Andersartigkeit schnell aus. Und so entsteht eine Spirale aus sozialer Unbeholfenheit und Ablehnung. Je unbeholfener desto mehr Ablehnung desto unbeholfener.

Maté setzt hinzu, dass Orientierung suchende Kinder diese am besten finden, wenn sie sich an Erwachsenen ausrichten können. Und dass es ein folgenschwerer Irrtum ist, zu glauben, orientierungsuchende Kinder oder Jugendliche könnten bei anderen orientierungsuchenden Gleichaltrigen den Halt und die Sicherheit finden, die sie brauchen.

Auch deshalb brauchen Kinder viel Nähe von liebenden Erwachsenen.

Maté beschreibt ein ländliches Dorf in Südeuropa, in dem zwar die Älteren mit den Älteren sprechen und die Kinder mit anderen Kindern spielen, doch letzteres immer in Sichtweite der Erwachsenen, die ein Auge auf die Heranwachsenden haben, so dass die einerseits ihre Autonomie entwickeln können und gleichzeitig Hilfe und Anleitung erhalten, wenn Probleme nicht untereinander gelöst werden können.

Doch in unserer Gesellschaft sollen die Erwachsenen vierzig Stunden arbeiten. Mit Fahrtweg und Pause ist das der größte Teil des Tages.

Und wenn die Arbeitszeit abgeleistet ist, muss ja auch noch Essen herbeigeschafft und zubereitet, Klamotten gekauft, gewaschen und in Schränke geräumt und Hausaufgaben für die Schule erledigt werden.

Zeit ist eine wichtige Währung in engen Beziehungen

Wer keine Kinder hat, macht sich keine Gedanken darüber, dass diese Basics für einen Erwachsenen allein mühelos nebenbei mitlaufen.

Zumal bei Dopperverdienerpaaren ohne Kindern meist mehr Geld vorhanden ist, so dass man eben Essen geht, wenn der Kühlschrank leer ist. Ein teures Vergnügen, wenn man für lauter Nichtverdiener mitbezahlen muss.

Die Wäsche und das Geschirr von vier Personen türmt sich schnell zu Bergen, so dass von Haushalt nebenbei keine Rede mehr sein kann.

Obwohl ich eine intelligente Frau bin, habe ich vorab nicht begriffen, wie viel Hausarbeit eine Familie bedeutet. Siehe Kinder-Analphabetentum.

Hausarbeit habe ich von jeher nicht gemocht und auch deshalb gar nicht weiter darüber nachgedacht.

Rückwirkend bin ich sehr froh, dass ich nicht begriffen habe, wieviel Hausarbeit auf mich als Mutter zukommt, denn dann hätte ich wahrscheinlich aufs Kinderkriegen verzichtet, und damit die größte Liebe meines Lebens verpasst.

Susanne Garsoffky und Britta Sembach haben mit ihrem Buch „Die Alles ist möglich-Lüge - Wieso Familie und Beruf nicht zu vereinbaren sind“ beschrieben, dass alles gleichzeitig die Quadratur des Kreises ist.

Mit anderen Worten: Finanzielle Unabhängigkeit als Mutter finde ich zwar immer noch eine tolle Idee. Aber in der Realität ist sie für mich auf der Prioritätenliste sehr weit nach unten gerutscht.

Das Wichtigste für mich ist, mich zwischen den Anforderungen meiner Familie, meiner selbst und meinem Beruf nicht zu zerreiben, sondern den Stress in Grenzen zu halten und allem so gut es geht gerecht zu werden.

Alles auf einmal ist nicht zu schaffen

Dass der Gesetzgeber mich allein verantwortlich für meine Existenzsicherung sieht, ist für mich Ausdruck dessen, dass gesellschaftlich gesehen die Bedürfnisse von Kindern vielleicht nicht erkannt und auf jeden Fall nicht berücksichtigt werden.

Kinder umfangreich betreuen zu lassen, damit man arbeiten kann, empfinde ich insbesondere bei der immer wieder attestierten schlechten Betreuungsqualiät und der Tatsache, dass der Schulerfolg in Deutschland vor allem vom Elternhaus abhängt, absurd.

Die Benachteiligung von Familien findet sich auch an anderen Stellen wieder. So werden in unserem Land Eltern genauso besteuert wie Kinderlose, obwohl sie, wenn sie sich um die Kinder kümmern, weniger Zeit für Erwerbsarbeit haben, während sie die Rentenzahler von morgen großziehen.

Dabei könnte man Familien steuerlich als Einheit sehen und Kinder mitzählen. Hat eine Familie zwei Kinder, würde das Erwerbseinkommen aller vier Familienmitglieder zusammengerechnet und dann durch vier geteilt. Ich habe nichts davon gehört, dass das ein Ziel einer Partei ist.

Das Ergebnis: In den meisten Familien müssen die Eltern zu viele Bälle gleichzeitig in der Luft halten.

Und so bekommen Kinder oft nicht, was sie bräuchten

Gabor Maté betont, dass es keine schrecklichen Geschehnisse sein müssen, so wie die, anhand derer Dr. Perry die Entwicklungsbedürfnisse von Menschen bespricht.

Maté erklärt, dass es gar nicht die schrecklichen Ereignisse sein müssen, wenn wir an traumatische Kindheitserfahrungen denken. Sondern dass das, was nicht passiert, oft genauso große Folgen hat, dabei jedoch völlig unbemerkt bleibt.

Dass Kinder den Stress der Eltern mitfühlen und sich deshalb zurücknehmen. Dass sie Dinge mit sich selbst abmachen, die sie nicht allein bewältigen können, um den Eltern nicht noch eine Last mehr aufzubürden.

Kinder „entscheiden“ das unbewusst aus ihrer Abhängigkeit von ihren Eltern heraus, als noch nicht entwickelte Heranwachsende. Sie haben dafür weder Worte noch Bewusstsein.

Und deshalb ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Eltern gar nicht wissen, wie einsam ihre Kinder sind und was sie zu Hause verschweigen.

In nahezu jeder Familie machen Kinder so schmerzhafte Erfahrungen, die artgerechter Menschhaltung widersprechen. Die große Last, die Familien zu tragen haben, und der Stress, den das verursacht, prägt die Jüngsten am meisten.

So haben Kinder oft das Nachsehen. Und zwar auch, wenn die Eltern sie sich ausdrücklich gewünscht haben und sie hingebungsvoll lieben.

Wie Gabor Maté bin ich überzeugt, dass Eltern fast immer ihre Kinder ohne Absicht verletzen und ihnen nur das Allerbeste wünschen.

Und dass viele Verletzungen aus unserem gesellschaftlichen System entstehen, also für die Eltern auch maximal schwer zu erkennen sind.

Das Ergebnis: Beziehungsschwierigkeiten oder merkwürdiges Verhalten

Dr. Perry meint, dass wir alle manchmal Menschen treffen, mit denen wir uns irgendwie nicht wohlfühlen. Diese Leute gelten als „schwierig, einsam und sozial unbeholfen“. Oft lässt sich schwer benennen, woher das Unbehagen kommt, „aber in der Begegnung liegt etwas Seltsames oder Unnatürliches“.

Vermutlich ist es Menschen mit mir früher so gegangen, dass sie mich merkwürdig fanden. Und mir fällt auch sofort eine Bekannte ein, in deren Gegenwart mich ein nicht definierbares Unbehagen beschleicht.

Die sozialen Unbeholfenheiten sind meist unerkannte Spätfolgen von Erfahrungen aus der Kindheit. Je nachdem, wie die artgerechte Aufbringung ge- oder missglückt ist, gibt es viele Menschen, die sich mit anderen nicht wirklich wohlfühlen und entspannen können. Sie finden nicht den richtigen Rhythmus im Tanz mit anderen, sind zu schnell, zu langsam, zu nah oder zu weit entfernt. Taktlos kommt uns das dann vor.

Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie sich das anfühlt, taktlos zu sein. Ich sah einerseits die Fettnäpfchen nicht kommen, und wenn ich dann hineingelatscht war, empfand ich aufgrund meiner hohen Sensibilität die Peinlichkeit überdeutlich als brennende Scham, die oft schlimmer war, als körperliche Schmerzen.

Kein Wunder, dass ich mich mit anderen nicht wohlfühlen konnte. Obwohl ich mir das so sehr gewünscht habe.

Doch das Gute ist: Ganz anders als das Sprichwort behauptet, kann Hans jederzeit lernen, was Hänschen nicht gelernt hat.

Das fällt natürlich nicht jedem gleich leicht und je nachdem, wann und wie wir geprägt sind, dauert es mal länger, mal geht es schneller.

Generell lässt sich sagen: je früher im Leben eine negative Erfahrung gemacht wird, und je stärker sie ist, desto prägender ist sie und umso länger wird es dauern, sie zu transformieren.

Entwicklulng durch Übung
Michelangelos römische Pietà

Aber ganz egal, wie schwierig es war, oder wie sehr wir geprägt sind, es gibt einen Weg in das Glück mit anderen Menschen.

Ich habe noch nie selbst versucht, eine Figur aus einem Stück Stein zu formen. Gelesen habe ich, dass ein Steinmetz einhundert Mal auf die gleiche Stelle schlagen muss, bevor sich ein Stück aus dem Stein löst.

Mit großer Bewunderung habe ich vor der Pietà in Rom gestanden, der wunderschönen Marmorstatue von Michelangelo.

Obwohl er Skizzen und Modelle erstellt hat, bevor er den Marmorblock ausgesucht und mit der Arbeit begonnen hat, soll er gesagt haben, er habe die Pietà nicht geschaffen. Vielmehr hat er behauptet, die Figuren seien schon vorher im Marmor vorhanden gewesen. Er habe sie „nur“ aus dem Stein heraus geschält.

Mit der Entwicklung unserer Persönlichkeit verhält es sich ganz genauso. In unserer Kindheit legen wir uns Panzer oder Masken zu, die uns helfen, mit dem umzugehen, was uns überfordert. Wenn wir als junge Erwachsene dann in unser selbstverantwortliches Leben starten, liegen Teile unserer wirklichen Schönheit und Menschlichkeit darunter verborgen.

Entwicklung in unsere mitfühlende Menschlichkeit

Wenn wir uns entscheiden, uns da herauszuentwickeln, betreten wir den Weg, der dem des Künstlers ähnlich ist.

Dazu gehört die Mühsal, hundert Mal auf die gleiche Stelle zu schlagen. Beispielsweise wenn wir uns bessere Beziehungen wünschen. Wir beginnen, nach Lösungen zu suchen, doch erst Mal ändert sich: gar nichts.

Das heißt aber nicht, dass die Mühe vergeblich ist, selbst wenn wir keine Ergebnisse sehen.

Bei Insta habe ich eine Komikerin erzählen hören, sie sei mit ihrem Mann seit 30 Jahren verheiratet, und sie könne mit ihm einen Streit von Anfang bis Ende führen, auch, wenn dieser gar nicht zu Hause sei. Jeder wisse, was der andere sagt, und alles geht den immergleichen Gang.

Das Publikum kringelt sich in wissendem Lachen. So auch ich.

Aber es muss nicht so bleiben. Wir können Mut und Vertrauen behalten und trotzdem weitermachen. Wir können plötzlich einen Streit anders führen. Oder gar nicht mehr. Wir können uns wirklich verändern.

Doch anders als Michelangelos Pietá werden wir niemals fertig. Als Menschen bleiben wir Meisterwerke in Entwicklung.

Egal wie mitfühlend man ist, egal, wie gut man sich mit anderen versteht, egal, wie sehr man den Moment genießen kann - man kann immer noch weiter lernen und glücklicher werden.

Der Weg dahin geht über die Erkenntnis.

Es hilft wirklich, zu verstehen, woher wir unsere Anpassungen haben, und wie sie uns in der Vergangenheit gedient haben.

Es hilft, zu verstehen, dass unsere Eltern uns auf ihre Art geliebt haben, auch wenn sich das manchmal nicht so angefühlt hat.

Es ist auch gut, zu erkennen, womit man bei anderen aneckt und sie verprellt. Oder wo man sich selbst nicht gerecht wird und seine eigenen Rechte nicht gut vertritt.

Es hilft, zu wissen, dass manches traurig war, anderes uns überfordert hat.

Und es ist gut, sich zu erinnern daran, wie das Leben uns manchmal auch beschützt hat und kleine oder größere Wunder geschehen sind.

Und dass hinter all dem, mit dem wir manchmal zu kämpfen haben, unser wahres Selbst liegt: Das soziale Tier Mensch, dem Mitgefühl und Kooperation angeboren sind. Und das spontan in ein Lachen ausbrechen kann mit Fremden in einem Fahrstuhl, so das der Moment glücklich leuchtet.

Manchmal hilft es auch, eine Idee mitzunehmen von einem anderen Menschen, der auf dem Weg ist.

Trag Dich in meine Liste ein, dann bekommst Du eine Mail, sobald der nächste Artikel fertig ist. Vielleicht findest Du in ihm genau den hundertsten Gedanken, der das Stück aus dem Stein löst und Dich ein bisschen weiterbringt. Das würde mich von Herzen freuen!


Ich bin Jeanne, Menschenmensch, und fasziniert von der Frage, wie wir unser bestes Leben leben. 

In meinen Coachings und Seminaren vermittle ich neben praktischem Wissen auch Strategien und Techniken zur Selbstführung, um zu sich selbst und seiner ganzen Kraft und Lebensfreude zu finden. 

Erwachsen zu sein bedeutet für mich, eng verbundene Beziehungen zu genießen, die eigenen Werte im Alltag zu leben, für die eigene Fitness und Gesundheit zu sorgen und einer Arbeit nachzugehen, die einen Beitrag leistet und die eigenen Stärken und Fähigkeiten ausdrückt.